Susan Hastings "Schusterjunge Karl", Leseprobe
Karl schwieg. Er legte seinen Arm um Gustav und blieb so liegen. Um sie herum tobte die Schlacht, Kanonen- und Geschützdonner, Gewehrfeuer, Schreie, Befehle, Pferdewiehern, der Boden bebte und zitterte. Die Zeit ging über sie hinweg, bis Karl bemerkte, dass Gustav steif und kalt war. Langsam setzte er sich auf und betrachtete den verstümmelten Leichnam. Sein Blick glitt über das mit Leichen übersäte Schlachtfeld, und plötzlich begann er zu weinen. Er schluchzte, es schüttelte ihn, die Tränenflut verschleierte seinen Blick, das grausige Bild verlor seine Schärfe. Immer deutlicher drang in Karls Bewusstsein, dass auch er wohl hundertfach getötet hatte, bis seine Munition zur Neige ging. Wie viele Mütter weinten um ihre Söhne, die durch die Kugeln aus seinem Gewehr gestorben waren? Wie viele junge Leben hatte er abrupt beendet, weil es ihm befohlen wurde? Was wäre aus all den jungen Männern geworden, wären sie nicht gefallen? Er betrachtete seine Hände. Sie waren schmutzig, voller Blut und zitterten. Er weinte um den Tagelöhner Gustav, den er früher immer beschimpft, verjagt und mit abschätzigen Blicken gestraft hatte. Ihm wurde klar, dass auch er Schuld an dem Elend um ihn herum trug, dass nun auch er Verursacher von Leid war.
"Was sitzt du hier herum", herrschte ihn der Feldscher an. "Verschwinde, wir suchen Verwundete. Für Tote haben wir keine Zeit."
Er winkte zwei Soldaten heran, die Gustav auf einen Fetzen Zeltleinen packten.
"Für den ist es besser so"", meinte der eine. "Wir werfen ihn in die Grube."
Karl starrte auf zwei blutige Stümpfe, wo einmal Gustavs Beine waren. Dann schleppten sie Gustavs Leichnam über das Schlachtfeld, hin zu einem länglichen Graben. Hunderte Leichen, Pferdekadaver, alles lag dort übereinander. Niemand sprach ein letztes Gebet, niemand warf eine Handvoll Erde auf die armen Teufel. Keine Blume würde ihr Grab schmücken.
"Ich bin ein Mörder", schluchzte Karl. "Gustav, verzeih mir. Ich war überzeugt, auf der richtigen Seite zu kämpfen."
Nur zögerlich fiel ihm auf, dass das Kampfgetöse langsam verebbte. Verwirrt schaute er um sich. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Er hatte den Rückzug verpasst!
Er wischte sich die Tränen aus den Augen. Wie tief musste man erst fallen, um auf dem Boden der Realität aufzuschlagen?
 
Fenster schließen