Plötzlich gab es einen heftigen Schlag, die Kutsche sprang in die Höhe und wirbelte die Reisenden durcheinander. Ein zweiter Schlag, und die Kutsche stürzte um. Schreie, splitterndes Holz, aufgewirbelter Staub und ein Körper, der auf ihn fiel, waren das Letzte, was Max wahrnahm. Dann wurde es dunkel um ihn.
Er besaß kein Gefühl, wie viel Zeit vergangen war, als er wieder erwachte. Es war unheimlich still. Langsam hob Max den Kopf. Es fiel ihm schwer. Durch einen Spalt drang Tageslicht zu ihm. Wo war er? Was war geschehen? Er wollte sich erheben, doch es war unmöglich. Ein heftiger Schmerz schoss durch seinen Brustkorb. Etwas Spitzes musste ihn durchbohrt haben. Vorsichtig versuchte Max, mit den Händen seinen Körper abzutasten. Er fand nichts, was ihn durchbohrt haben könnte, doch das heftige Stechen blieb. Er rang nach Luft. Unter fast übermenschlicher Anstrengung versuchte er, sich aus seiner prekären Lage zu befreien. Plötzlich wurde es hell. Jemand hatte die Abdeckung über ihm weggezerrt.
"Gott sei Dank, Herr Speck, Sie leben!" Wilhelm von Freygang beugte sich über ihn. "Warten Sie, ich helfe Ihnen heraus. Oh je, Sie sind verletzt!"
"Ich … nein … ja … es tut weh. Was ist denn passiert?"
"Die Kutsche hat sich überschlagen und die Pferde sind durchgegangen."
Mit Freygangs Hilfe befreite sich Max aus den Trümmern. Vor Schmerzen zusammengekrümmt, schleppte er sich zu den anderen Reisenden, die am Wegrand saßen oder lagen. Aus Kleidungsstücken hatten sie notdürftige Verbände hergestellt.
Max wurde übel und er musste sich übergeben. Ächzend ließ er sich nieder. Etwas Warmes lief ihm übers Gesicht. Max wollte es wegwischen. Es war Blut. Erschrocken starrte er auf seine Hand. Wilhelm von Freygang kam mit einem Stoffstreifen herbeigeeilt und wickelte ihn um Max' Kopf. "Pressen Sie mal drauf. Ich hoffe, die Blutung hört auf."
Max tat, wie ihm geheißen, dann wagte er einen Blick in die Umgebung. Über eine längere Strecke hatten sich die Trümmer der Kutsche verteilt. Aufgerissene Gepäckstücke, zersplittertes Holz, ein Rad, dann fiel Maximilians Blick auf eine zugedeckte Gestalt.
"Der Kutscher", flüsterte Freygang. "Er war sofort tot."
Stöhnend lehnte sich Max zurück und schloss die Augen. In seinem Hirn hämmerte es. Auf Reisen hatte er genügend Unbilden erlebt, aber noch nie einen solch schrecklichen Unfall.
Rundherum war nichts als Steppe. Von den Pferden war nichts mehr zu sehen. Wie sollten sie Hilfe finden?
"Wir werden zum nächsten Dorf laufen und Hilfe holen." Freygang schien Max' Gedanken zu erraten. "Ich bin nicht weiter verletzt, dieser Reisende auch nicht. Halten Sie durch!"
Die Sonne brannte unbarmherzig auf sie herab, es gab kein Wasser, um den Durst zu löschen, die Wunden zu säubern und den Kopf zu kühlen. Max zog sich eine Jacke übers Gesicht und kämpfte gegen den Schmerz an. Langsam dämmerte er in einen unruhigen Schlaf hinüber.
Jemand zog ihm die Jacke vom Gesicht. Max blinzelte irritiert. Eine aufgeregte Frau schnatterte auf Russisch, schlug immer wieder die Hände über dem Kopf zusammen. Dann packten ihn kräftige Männer und legten ihn vorsichtig auf einen Wagen mit Stroh. Ruckelnd setzte er sich in Bewegung. Max sah den Himmel über sich, blassblau mit Schleierwolken, eine verwaschene Sonne. Die Hitze lastete wie ein Alpdruck auf ihm. Das Atmen wurde zur Qual.
Der Wagen hielt auf einem Bauernhof. Eine kleine Holzhütte, eine angebundene Kuh, ein Misthaufen. Mehr konnte Max nicht erkennen.
In der Hütte war es düster. Die winzigen Fenster ließen kaum Licht hinein. Es roch nach Zwiebeln, Kohl und Jauche. Max wurde auf ein Bett gelegt. Es war wohl das einzige im Haus.
Es gab auch nur einen Raum. Vom Deckenbalken hing ein seltsames Gestell, das sich als Kinderwiege herausstellte. Die niedrige Decke bestand aus lose aufgelegten Brettern, darüber lagerte Stroh. Der Zipfel einer Decke hing von dort herab und Max vermutete, dass dort weitere Familienmitglieder schliefen. Die füllige Frau mit dem bunten Kopftuch hielt ihm eine Schale mit heißem, süßem Tee an die Lippen. Vorsichtig schlürfte Max das aromatische Getränk. Es tat ihm gut.
Die Frau stopfte ihm ein dickes Kissen in den Rücken, dann ließ sie ihren Blick auf ihm ruhen. Dabei redete sie unaufhörlich. Eine zweite Frau trat hinzu und schlitzte ihm mit einem Messer das Hosenbein auf. Max wollte protestieren, doch an den blutdurchtränkten Fetzen sah er, dass sein Bein verletzt sein musste. Stöhnend fasste er sich an die Brust. Die jüngere Frau öffnete seine Jacke, dann ging wieder das russische Palaver los. Max war es unangenehm, doch der Schmerz war schlimmer. Beinahe willenlos ließ er sich entkleiden, waschen, seine Wunden versorgen. Mit unvermutet sensiblen Fingerspitzen tastete sie seine Rippen ab, dann richtete sie Max auf und schnürte ihn mit langen Stoffstreifen zusammen wie in ein Korsett. Max röchelte, weil ihm die Luft ausging. Doch die Frau strich ihm nur über die Schultern und nickte. Es schien alles seine Ordnung zu haben.
Sie schob ihm einen hölzernen Löffel mit Honig in den Mund. Max spürte einen unangenehm bitteren Geschmack, den der Honig nicht überdecken konnte. Die Frau deutet ihm an, dass er schlucken sollte. Sicher war es Medizin. Er schluckte tapfer, obwohl er angewidert das Gesicht verzog. Nach einiger Zeit fühlte er sich besser. Ja, er hätte vielleicht sogar aufstehen können. Offenbar war seine Verletzung nicht so schlimm.
Jemand trat an sein Bett. Max versuchte sich zu erinnern, woher er ihn kannte. Das Gesicht des Mannes verzog sich zu einer seltsamen Fratze, dann flossen bunte Farben darüber. Alles geschah langsam, wie in einem Traum. Die junge Frau trat hinzu. Max fand sie unheimlich anziehend und schön. Er streckte die Hände nach ihr aus, um sie an sich zu ziehen. Er griff ins Leere. Ihr Lachen klang entfernt und schrill.
"Er verspürt jetzt keine Schmerzen mehr", sagte sie auf Russisch zu Freygang. "Die Reiter sind nach Saratow unterwegs. Mehr können wir im Augenblick nicht tun."
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