Es hatte die ganze Nacht geschneit. Auf den Straßen war der Schnee notdürftig zur Seite geschippt worden, damit die Kutschen passieren konnten. Den Rest besorgten die Hufe der Pferde. Charlotte lupfte den Saum ihres Mantels und stieg über die Fahrrinnen. Der schmutzige Schnee quetschte sich in ihre Stiefel. Charlotte verzog das Gesicht. Doch der Laden von Madame Sansson lag schon in Sichtweite.
Eine Frau schüttete ihren Eimer mit Putzwasser über dem Trottoir aus. Charlotte konnte gerade noch beiseite springen. Dabei fühlte sie sich mit ihrem dicken Leib so unbeweglich. Endlich erreichte sie den kleinen Laden und schloss aufatmend hinter sich die Tür.
"Was für ein Wetter! Guten Tag, Madame Sansson!"
"Guten Tag, Madame Speck! Was treibt Sie bei diesem Wetter auf die Straße?"
"Ich benötige noch einige Tuben Farbe und zwei, drei Pinsel. Ich habe mich wohl verschätzt. Der Künstler benutzte so viele Arten von Oliv bei seinem Werk."
"Aber Madame Speck, die hätte ich Ihnen doch bringen lassen, wenn Sie mich informiert hätten."
Charlotte zog den Pelzhut vom Kopf und beugte sich zu Madame Sansson herüber. Einige Tropfen Tauwasser fielen auf die dunkle Ladentafel. "Um ehrlich zu sein, ich musste einfach mal raus. Den ganzen Tag in der Pension zu sitzen, da fällt mir die Decke auf den Kopf."
"Nun ja, aber in Ihrem Zustand …"
Sie hob abwehrend die Hände. "Mein lieber Mann ist schon voller Fürsorge für mich, als wäre ich krank. Dabei habe ich mich noch nie so wohl gefühlt. Da ich den ganzen Tag nichts weiter zu tun habe und unsere Pensionswirtin mich sehr verwöhnt, vertreibe ich mir die Zeit mit dem Kopieren der Bilder. Es macht mir Spaß. Nun benötige ich noch einige Ölfarben; Weiß auf jeden Fall, Oliv, und Braun. Rot habe ich noch genügend, damit ist der Künstler sparsam umgegangen."
Madame Sansson suchte die gewünschten Tuben aus einer Vielzahl von kleinen Schubladen heraus, die zu einem gewaltigen Drogerieschrank, groß wie die ganze Wand des Lädchens, gehörten.
"Wussten Sie, dass die Maler früher ihre Farben aus Eiern, Quark, Kalk, Terpentin und so manchen unappetitlichen Ingredienzien mischten?"
Madame Sansson legte die Tuben sorgfältig nebeneinander auf die Ladentafel. "Natürlich weiß ich das. Viele Maler mischen sich auch heute noch ihre Farben auf diese Weise. Haben Sie Interesse?"
Charlotte lachte auf. "Gott bewahre! Zum Glück ist manches heutzutage wesentlich einfacher. Ich belasse es bei den Ölfarben. Und zwei Pinsel, bitte. Was bin ich Ihnen schuldig?"
Madame Sansson verpackte die Farben in eine Papiertüte, während Charlotte das Geld auf die Ladentafel legte. "Dann noch einen schönen Tag!"
Es schneite immer noch. Charlotte zog das Band ihres Hutes fester um das Kinn. Jetzt sehnte sie sich doch nach ihrer beheizten Stube in der Pension. Sie war noch keine zwanzig Schritte weit gekommen, als es ihr unvermittelt die Beine unter dem Leib wegzog. Sie ruderte Halt suchend mit den Armen durch die Luft, die Tüte mit den Ölfarben flog davon. Ein Schneehaufen milderte ihren Sturz, mit dem Arm konnte sie sich gerade noch abfangen.
Wie betäubt blieb Charlotte liegen und rang nach Luft. Im nächsten Augenblick war es ihr peinlich, so hilflos und unschicklich auf dem Trottoir zu liegen. Hilfreiche Hände streckten sich ihr entgegen. Doch als sie zufassen wollte, zuckte sie mit einem Schrei zurück. Ihr rechter Arm schmerzte höllisch. Mit der linken Hand tastete sie nach ihrem Bauch. Hoffentlich war dem Kind nichts geschehen! Sie hatte doch glatt übersehen, dass sich das ausgeschüttete Putzwasser der Frau inzwischen in tückisches Eis verwandelt hatte.
Max erschrak nicht wenig, als er am Abend in die Pension zurückkehrte. Charlotte saß wie immer vor der Staffelei. Doch ihr rechter Arm war dick bandagiert und hing in einer Schlinge, die sie um den Hals trug.
"Um Gottes Willen, was ist geschehen?"
"In dieser Stadt gibt es sehr verantwortungslose Leute", erwiderte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzuschauen. "Sie schütten ihr schmutziges Wasser auf die Straße, dass es zu Eis gefriert und ahnungslose Passanten in eine peinliche Situation bringt. Der Doktor sagte, der Arm ist gebrochen und es dauert bestimmt sechs Wochen, bis er wieder zusammengewachsen ist. Das ärgert mich natürlich, aber dann male ich das Bild eben mit der linken Hand fertig."
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